Rund ein Viertel aller LSI-Schützlinge wurden verstossen oder ausgesetzt. Ein solches Handeln ist für uns nur schwer nachvollziehbar, jedoch die harte Realität in Burkina Faso. Dafür gibt es verschiedene Gründe:
Veraltete Traditionen und Armut
Vor allem die Ethnie der Mossi, welche mehr als die Hälfte der burkinischen Bevölkerung ausmacht, hat noch ein sehr veraltetes Denken und harte Traditionen, die strikt durchgesetzt werden. So sind beispielsweise aussereheliche Kinder nicht geduldet. Kommt es vor der Ehe zu einer Schwangerschaft, muss entweder schnellstmöglich geheiratet oder aber – wenn der Vater die Schwangerschaft nicht anerkennt – das Kind nach der Geburt aus der Familie verstossen werden. Oft verstecken die Frauen die Schwangerschaft und geben das Frischgeborene ab. Nur sehr selten nimmt eine Kindsmutter die Verbannung der Familie in den Kauf und geht mit ihrem Kind eigene Wege. In diesem Fall würde sie nämlich völlig alleine und ohne finanzielle Hilfe dastehen, was für beide kein einfaches Leben bedeuten würde. Viele sehen dann für ihr Kind bessere Chancen, wenn es in ein Zentrum kommt und zur Adoption freigegeben wird. Das Gleiche gilt auch für Schwangerschaften, die aufgrund von Vergewaltigungen oder Ehebruch entstehen.
Inzest
Inzest (veraltet auch „Blutschande“ genannt) bezeichnet den Geschlechtsverkehr zwischen eng blutsverwandten Menschen. Während in vielen Ländern Europas sexuelle Handlungen zwischen Verwandten 1. und 2. Grades strafbar sind, ist die Handhabung in Burkina Faso anders. Dort gibt es keine Gesetze, aber die braucht es auch nicht. Die Ethnien haben ihre eigenen strikten Traditionen und Regelungen. Viele dulden überhaupt keine Beziehungen innerhalb der Verwandtschaft – möge sie noch so weit entfernt sein. Auch Beziehungen zwischen Verwandten 3. oder 4. Grades, welche in Europa erlaubt sind, gelten als grosse Schande und werden keinesfalls akzeptiert. Stellen Sie sich also vor: Sie sind jung und entdecken Ihre Sexualität. Sie leben mit ihrem ganzen Familienclan in einem abgeschiedenen Dorf, rundherum nichts als Felder und keine Unterhaltungsmöglichkeiten. Geschlechtsverkehr ist ein Tabuthema, es gibt kaum Aufklärung und keinen Zugang zu Verhütungsmitteln. Wenn es dann zu einer unerwünschten Schwangerschaft kommt, hat die junge Mutter keine andere Wahl, als das Kind abzugeben. Sonst würde auch sie von der Familie verstossen und hätte kaum Überlebenschancen.
Besondere Bedürfnisse
Ein Kind mit besonderen Bedürfnissen ist eine grosse finanzielle Belastung für die ganze Familie. Vom Staat gibt es keine Unterstützung und oft fehlt die Zeit für die anspruchsvolle Betreuung. Über 80 Prozent der Bevölkerung halten sich mit Landwirtschaft oder dem Verkauf diverser Dinge über Wasser und leben von Tag zu Tag. Können sie nichts ernten oder verkaufen, haben sie auch nichts zu essen. Wo soll da die Zeit für ein Kind mit besonderen Bedürfnissen bleiben, ohne das Überleben der ganzen Familie zu gefährden? Diese Verzweiflung kann Eltern dazubringen, ein Kind auszusetzen. Zwar ist das Zentrum LSI nicht auf die Versorgung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen spezialisiert, es hat aber trotzdem schon den einen oder anderen Notfall aufgenommen, um das Überleben der Kinder zu sichern.
Wenn geistig behinderte Frauen schwanger werden, gebären sie oft auf einem Feld oder – wenn das Kind Glück hat – an einem zugänglichen Ort, wo es schnell gefunden wird. Denn normalerweise lassen diese Frauen ihre Frischgeborenen zurück, ohne überhaupt verstanden zu haben, was gerade passiert ist.
Aberglaube
In vielen afrikanischen Ländern sind sogenannte „Hexenkinder“ leider keine Seltenheit. Auch wenn es in Burkina Faso vergleichsweise nur sehr wenige Fälle gibt, kommt es auch dort vor, dass Kinder für ein Unglück in der Familie verantwortlich gemacht und als pechbringende Hexenkinder ausgesetzt oder verstossen werden. Meistens passiert dies, wenn die Kindsmutter während oder kurz nach der Geburt stirbt.